Klagefall
Montag, 2. Juli 2012
Bagdad

Als der dritte Golfkrieg vorbei war, hängte der Mann ein neues Schild an seinen Laden: Bagdad Döner.

Auf der Bank vor dem Geschäft sitzt sein Vater, das Gesicht in der Sonne, in den Händen hält er ein Glas mit schwarzem Tee, die Filzmütze liegt auf dem Tisch. Er blickt auf die Straße, ganz still, auf die Systembäckerei gegenüber, auf die vorbeilaufenden Menschen, auf die hungrigen Tauben auf dem Kopfsteinpflaster, fast so, als ob hier Al Mansour wäre und nicht die Fußgängerzone einer deutschen Kleinstadt, die einmal die Straße der Freundschaft war, als wir noch Ingenieure und Bauarbeiter nach Falluja schickten, um Fabriken zu bauen, Düngemittel für den Sozialismus von Baath.

Ich denke an die vielen irakischen Geschichten, die ich gehört habe, an den sunnitischen Hochzeitsänger, die yezidische Familie aus den Bergen bei Mosul, die traurigen Schiiten aus dem Süden, die Turkmenen aus Kirkuk, die so aufgeregt waren, die Assyrer mit ihrem zerstörten Alkoholgeschäft, den Mann von den Fedajin-Saddam, den kurdischen Jungen, der seine Braut verloren hatte, auf der Flucht vor der Blutrache, den Araber, den Evangelikale in einem Pool getauft hatten, an die Abenteurer, die Verzweifelten, die Peschmerga, die Märtyrer, die Staatenlosen, die Unklaren, an die Brandnarben, die Tränen, das Bitten, das Flehen, die Drohungen, an den Mann, der ohnmächtig geworden war vor Durst, an die Ölfelder, die Wüste nach Jordanien, die trockengelegten Sümpfe des Euphrat, das Kriegerdenkmal am Schatt al-Arab, an all die Geschichten, die erfundenen Geschichten, die wahren Geschichten, die ausgeschmückten Geschichten, die guten Geschichten, die schlechten Geschichten, die protokollierten Geschichten, laut diktiert, zurückübersetzt und genehmigt, eingefangen in ein paar Obersätze, rechtsmittelfest formuliert, an all die Fähren, Flugzeuge, Container, Ladeflächen, Toyota Pickups, die durchwateten Flüsse, das Gebirge an der Grenze inmitten von Kurdistan, die Schlepper, die vielen Dollars, den verkauften Familienschmuck, die Verwandten in Europa, an die verlorenen Pässe, die selbstgemachten Ausweise auf billigem Papier mit den verwischten Stempeln, die Passersatzpapiere mit räumlicher Beschränkung, den Einundfünfzig und die Arztberichte für den Dreiundfünfzig, wenn es für das kleine Asyl nicht gereicht hatte, an die Sachleistungen, die Gutscheine, das Taschengeld und das Flüchtlingsheim im Nirgendwo, die Gemeinschaftsunterkunft, an die Geduldeten, die Untergetauchten, die nicht mehr zu erreichen waren, weg, weiter auf dem Weg.

Der Tourette-Mann, der den ganzen Tag lang durch die Stadt läuft, setzt sich zu dem Vater auf die Bank. Sie unterhalten sich. Ich höre nicht hin.

Man muss sich ein Weblog als ein Notizbuch vorstellen, das nicht verlorengehen kann und das niemand findet. Seit 5496 Tagen glücklich auf Antville.
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