Klagefall |
Montag, 29. Juni 2015
Grenzüberschreitungen
Bemerkungen zu einem Sondervotum im Urteil des Verfassungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 23. Januar 2014 – LVerfG 4/13 I. Zum 31. Dezember 2012 gab es in Deutschland 20.382 Richter [1]. Die wenigsten davon sind in der Öffentlichkeit bekannt, aus guten Gründen. Das Leitbild des Richters in Deutschland ist Zurückhaltung. Zwar werden die Namen der Richter, die an der Entscheidung mitgewirkt haben, im schriftlich abgefassten Urteil mitgeteilt, schon um den Betroffenen die Nachprüfung zu ermöglichen, ob sie vor ihrem gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) gestanden haben. Das Urteil selbst ergeht aber durch »das Gericht« und »Im Namen des Volkes«, die Entscheidungsformel [2] wird vom jeweiligen Spruchkörper [3] »für Recht erkannt«. In Datenbanken und Zeitschriften veröffentlichte Entscheidungen enthalten in der Regel gar keinen Hinweis auf die beteiligten Richter mehr. Der Richter ist Unperson [4]. Er geht im zur Entscheidung des Rechtsstreits berufenen Richterkollegium auf und trägt das Urteil nach außen auch dann mit, wenn er bei der (geheimen) Urteilsberatung überstimmt worden ist [5]. Über den Hergang bei der Beratung und Abstimmung hat der Richter auch nach Beendigung seines Dienstverhältnisses zu schweigen [6]. Das Beratungsgeheimnis wird mit zwei Gründen gerechtfertigt [7]. Mag die Autorität gerichtlicher Entscheidungen in einem modernen diskursiven Staat auch nicht mehr gefährdet sein, wenn die Urteilsunterworfenen und die Öffentlichkeit erfahren, dass innerhalb eines Spruchkörpers zu der aufgerufenen Rechtsfrage unterschiedliche Auffassungen bestanden, scheint die andere Herleitung um so bedeutsamer: Das Beratungsgeheimnis schützt die richterliche Unabhängigkeit. In einer Beratungssituation kann sich derjenige freier äußern, der sich sicher sein darf, dass seine Überlegungen und der Inhalt seiner Stimmabgabe den Raum nicht verlassen werden. Der anonyme Richter ist vor Einflussnahme und Nachteilen durch die Prozessparteien, die Öffentlichkeit und seinen Dienstherrn (die Justizverwaltung) geschützt – niemand erfährt, in wessen Sinne er abgestimmt hat. Das Verfassungsprozessrecht kennt eine bedeutsame Ausnahme vom Beratungsgeheimnis. Die für das Bundesverfassungsgerichts und die meisten Landesverfassungsgerichte geltenden Prozessordnungen erlauben es überstimmten Richtern, ihre abweichende Meinung als Sondervotum niederzulegen, das mit den schriftlichen Entscheidungsgründen im Anschluss an diese zu veröffentlichen ist [8]. Die Abweichung kann dabei sowohl das Ergebnis (dissenting vote) als auch die Begründung des Ergebnisses (consenting vote) betreffen. Das Sondervotum ist nicht Teil der Entscheidung, schon weil es die Urteilsformel nicht trägt. Es ist unverbindlich, der überstimmten Minderheit des kollegialen Spruchkörpers wird lediglich die (in ihrer Wirkung allerdings nicht zu unterschätzende) Möglichkeit gegeben, mit ihrer Rechtsmeinung in gleicher Weise wie die Mehrheit publiziert zu werden, prozessrechtlich ein Unikat. Von dieser Möglichkeit sollte nur sehr zurückhaltend Gebrauch gemacht werden, weil ein Sondervotum in zweifacher Hinsicht einen Systembruch bedeutet: Es individualisiert die Richterpersönlichkeit [9] und hebt zudem das Beratungsgeheimnis insgesamt auf, da mit der Mitteilung, wer von der Entscheidung oder ihrer Begründung abweicht, regelmäßig zugleich bekannt wird, wer sie bei der Abstimmung mitgetragen hat. Vorzugswürdig erscheint in jedem Fall, die rechtliche Kontroverse in den Urteilsgründen darzustellen und dort argumentativ zu entscheiden. Jedes Sondervotum bringt für seinen Verfasser Gefahren mit sich: Ihm mag Selbstdarstellung [10] oder persönliche Profilierung [11] vorgeworfen werden oder er mag den Zweck des Sondervotums verfehlen, der darin besteht, eine andere Sichtweise auf grundsätzliche Rechtsfragen des Verfahrens zu eröffnen [12]. Wer seine abweichende Meinung niederlegt und mit der Entscheidung veröffentlichen lässt, sollte daher in jedem Fall nahe am Sachverhalt bleiben, der dem Urteil zugrunde lag und aufzeigen, warum er auf dieser Grundlage die rechtliche Herleitung des von der Mehrheit gefundenen Ergebnisses für unzutreffend hält [13]. Essayistische Formen haben in juristischen Zeitschriften ihren Ort. II. Am 25. Februar 2004 wurde in einem Imbiss in Rostock Mehmet Turgut [14] auf den Boden geworfen, festgehalten und mit drei Schüssen in Hals, Nacken und Kopf aus nächster Nähe erschossen. Die Tat ist Teil einer Mordserie, die dem sog. Nationalsozialistischen Untergrund zugerechnet wird. Nach dessen Selbstenttarnung beschloss der Landtag von Mecklenburg-Vorpommern am 6. Dezember 2012 die Erklärung »Solidarität mit den Angehörigen, Freundinnen und Freunden der Opfer der neofaschistischen Terrorbande NSU« [15]. In der Debatte sagte der Rostocker Abgeordnete Hikmat Al-Sabty [16]: Abschließend lassen Sie mich, liebe Kollegen, den Vorfall von gestern, von Dienstag zu Mittwoch, nennen. In der Nacht zu Mittwoch haben Rechtsextreme in Rostock die Gedenktafel Lichtenhagen, die am Rostocker Rathaus angebracht wurde, entfernt. An die Stelle klebten sie ein weißes Schild mit der Aufschrift »Für immer Deutschland« [17]. Gerade jetzt passiert das, liebe Kolleginnen und Kollegen, wo die Innenministerkonferenz in Warnemünde tagt. Gerade das passiert, wo es um das NPD-Verbot geht. Das zeigt natürlich, wie frech sie geworden sind, wie aggressiv und brutal sie geworden sind. Der NPD-Abgeordnete Pastörs, der Hikmat Al-Sabty schon gefragt hatte, woher er wisse, dass es keine Linksradikalen gewesen seien, unterbrach ihn schließlich mit dem Zwischenruf Blühende Fantasie eines aus dem Orient Zugereisten! Er wurde deshalb von der Landtagspräsidentin des Saales verwiesen [18]. Wegen dieser Maßnahme machte Pastörs ein Organstreitverfahren beim Landesverfassungsgericht Mecklenburg-Vorpommern anhängig, mit dem feststellen lassen wollte, durch den Sitzungsausschluss in seinen verfassungsmäßigen Rechten als Abgeordneter verletzt worden zu sein. Das Landesverfassungsgericht wies seinen Antrag mit Urteil vom 23. Januar 2014 [19] zurück. Den Zwischenruf als einen Angriff auf die Menschenwürde des Redners und damit eine besonders schwere Ordnungsverletzung im Sinne der Geschäftsordnung des Landtags zu werten, die einen Sitzungsausschluss rechtfertige, halte sich im Beurteilungsspielraum der Landtagspräsidentin. Dem Urteil ist die abweichende Meinung eines Richters angeschlossen. Sein Sondervotum betrifft zwei Punkte der Entscheidung. Zunächst kritisiert er die Auffassung der Gerichtsmehrheit, die einen Beurteilungsspielraum der Landtagspräsidentin (und damit korrespondierend eine eingeschränkte Prüfungskompetenz des Verfassungsgerichts) für die Frage angenommen hat, ob eine besonders schwere Verletzung der Ordnung des Landtags vorliegt. Das Landesverfassungsgericht hat seine Rechtsmeinung aus der Geschäftsordnungsautonomie des Parlaments hergeleitet, die Reichweite dieses Arguments mag man in der Tat mit guten Argumenten angreifen können. Soweit der Richter dagegen meint, der Richterspruch leiste dem Umbau einer Volksvertretung freier Mandatsträger in ein zunehmend hierarchisch-bürokratisch strukturiertes Parlament Vorschub und laufe darauf hinaus, im Ordnungsrecht des Parlaments Minderheiten weitgehend recht- bzw. rechtsschutzlos zu stellen und umfangreiche Missbrauchsmöglichkeiten, bis hin zur Manipulation von Abstimmungen durch Ausschluss von Vertretern abweichender Ansichten zu ermöglichen, verfällt er in den Duktus einer apokalyptischen politischen Rede und verlässt den Bereich des juristischen Arguments, für den das Sondervotum eröffnet ist. Der weitere Einwand des dissentierenden Richters betrifft die Frage, ob der Zwischenruf die Menschenwürde des Redners angriff. Vielleicht hätte für den Richter Anlass bestanden, auf diesen Teil des Sondervotums schon deshalb zu verzichten, weil er eine Frage der einfachen Rechtsanwendung betraf. Stattdessen wird unter anderem so fortgesetzt: Die Annahme, die Äußerung habe »allein« der bloßen Herabsetzung gedient, sie habe keinen Bezug zur sachlichen Auseinandersetzung gehabt, sei vielmehr in der Absicht erfolgt, den sozialen Achtungsanspruch, den sozialen Wert- und Geltungsanspruch des Dr. Al-Sabty prinzipiell in Frage zu stellen und damit seine Menschenwürde in schwerwiegender Weise zu verletzen, ist für mich angesichts des Kontexts, der unmittelbaren Vorgeschichte des Zwischenrufs schwer nachvollziehbar. Bei lebensnaher und sich geradezu aufdrängender Würdigung erscheint eine für den Antragsteller derart nachteilige Interpretation (…) nicht gerechtfertigt. Näher gelegen hätte meines Erachtens die Auslegung als eine auf dem Hintergrund des von dem Abgeordneten Dr. Al-Sabty vorgegebenen Debattenstils gerade noch gerechtfertigte, wenn auch in der Form ansonsten zu weit gehende Verteidigung gegen die vorausgegangenen, in gleicher Weise unparlamentarischen und herabwürdigenden Angriffe dieses Abgeordneten. Der Antragsteller hätte dann die gegen ihn und seine Parteifreunde beharrlich unter Verstoß gegen die Unschuldsvermutung erhobenen Vorwürfe in durchaus humorvoller und beredter Form durch Verweisen in den Orient als dem Land der Märchenerzähler (1001 Nacht) bestritten. Spätestens an dieser Stelle wird ein weiterer Nachteil eines Sondervotums deutlich: Es fehlt das Korrektiv des Spruchkörpers bei der Abfassung des Textes. Einem Kollegialorgan wäre sicher aufgefallen, dass ausgerechnet ein Wahlplakat der NPD ungewollt den Subtext für das vom Richter nachgezeichnete und gleichermaßen auf den [20] Abgeordneten bezogene Stereotyp des »Orientalen« bildet [21]. Ein Kollegialorgan hätte es gewiss unterlassen, die Rollen von Angreifer und Angegriffenem zu vertauschen, indem dem Redner vorgeworfen wird, er habe sich in gleicher Weise unparlamentarisch und herabwürdigend verhalten wie der Antragsteller, der sich dagegen lediglich verteidigt hätte. Man fragt sich ernsthaft, worin dieser die Menschenwürde des Abgeordneten Pastörs liegende Angriff liegen soll. Der einzige Bezug in der Rede von Hikmat Al-Sabty auf einen NPD-Abgeordneten war die Reaktion »Aber der Führer der Fraktion ist heute selbst da« auf einen Zwischenruf von Udo Pastörs. Dass es gegen die (strafprozessuale) Unschuldsvermutung verstoßen sollte, die Entfernung der Gedenktafel am Rostocker Rathaus Rechtsextremen zuzurechnen, ist schon deshalb fernliegend, weil damit keine konkrete Person benannt war. Eine kollektive Unschuldsvermutung gibt es nicht. Schließlich hätte ein Kollegialorgan dem abweichenden Richter sicher deutlich gemacht, dass auch angesichts des aufgerufenen Tagesordnungspunktes kein Anlass bestand, dem Vorsitzenden der NPD-Fraktion in der amtlichen Sammlung der Entscheidungen der Verfassungsgerichte der Länder Humor und Beredsamkeit zu attestieren. Anmerkungen [1] nach einer Statistik des Bundesamts für Justiz vom 2. September 2013
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Man muss sich ein Weblog als ein Notizbuch vorstellen, das nicht verlorengehen kann und das niemand findet. Seit 5499 Tagen glücklich auf Antville.
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